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  • AutorenbildBozena Badura

Merlen Haushofer "Die Wand" - eine ältere Dystopie von neuer Aktualität

Im Lauf der letzten Jahren hat sich der Blick der Menschheit auf Katastrophen und somit die Art und Weise, wie wir dystopische Roman lesen, verändert. Denn die existenziellen Fragen, die in diesem Roman aufgeworfen werden, erlangten durch die weltweite Pandemie und die aktuell herrschenden Kriege eine neue Aktualität. Nicht zuletzt dadurch erscheint der bereits 1963 veröffentlichte Roman aktueller denn je.

Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist. Im Lauf des vergangenen Winters sind mir einige Tage abhanden bekommen. Auch den Wochentag kann ich nicht angeben. Ich glaube aber, daß dies nicht sehr wichtig ist. Ich bin angewiesen auf spärliche Notizen; spärlich, weil ich ja nicht damit rechnete, diesen Bericht zu schreiben, und ich fürchte, daß sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich erlebte. (S. 7)

Der Roman

Mit diesen Worten beginnt der Romane: in media res, irgendwo mittendrin.

Die namenlose 40-jährige Protagonistin will mit ihrer Cousine und deren Mann einige Tage in einer Jagdhütte in den Bergen verbringen, die sich jedoch zu einer ungewissen Ewigkeit ausdehnen. Da ihre Begleiter am ersten Abend noch einen Gang ins nächste Dorf unternehmen, aber am nächsten Morgen noch nicht zurück sind, macht sich die Erzählerin auf die Suche. Doch unerwartet stößt sie auf eine unsichtbare Wand. So wird die Protagonistin auf eine unerklärliche Weise von der Zivilisation abgeschnitten. Ob die Menschen auf der anderen Seite der mysteriösen Wand überlebten, ist unklar. Wir belgeiten die Ich-Erzählerin dabei, wie sie sich in der neuen Realität zurechtfindet und immer mehr mit der Natur verschmilzt. Da die Figur aus einer gut situierten Gesellschaftsschicht kommt und bisher kaum körperliche Arbeit ausüben musste, fällt ihr der Anfang besonders schwer. Doch mit der Zeit passt sie sich dem Rhythmus der Natur an und findet ihre innere Ruhe.

Der Roman ist ein Bericht. Die Leserinnen und Leser lesen darin über die verrichteten Tätigkeiten, über anfallende Arbeiten und beobachten die Veränderung des Wesens der Protagonistin. Wir haben hier einen figurenorientierten Plot, und zwar die Grenzerfahrung. Eben die Faszination für das Leben am Rande der Gesellschaft, bzw. wie hier sogar außerhalb der Gesellschaft, macht den Plot interessant. Spannend für die Leser:innen wird eine solche Geschichte vor allem dann, wenn der Text ihnen glaubhaft macht, dass dieses Unglück auch sie selber treffen könnte. Noch vor wenigen Jahren wäre eine unsichtbare Wand, die die Menschen von der Teilnahme an der Gesellschaft ausschließt, noch eine reine Fantasie. Doch spätestens seit die Pandemie zu einer solchen Wand wurde, scheint diese Bedrohung auch realer denn je. Doch nicht nur dieser Aspekt macht denn Text spannend. Denn auch wenn die Handlung langsam voranschreitet und die erzählten Tage sich ins Unendliche gleichen, ist das Buch eindringlich und fesselt einen bis zur letzten Seite. Die Autorin arbeitet in ihrem Buch nämlich sehr stark mit der Spannung. Dies erreicht sie, indem sie mehrmals interne Prolepsen einsetzt, indem sie immer wieder andeutet, dass später etwas vorgefallen ist, dass das Leben der Figur völlig veränderte. Wir wissen auch recht schnell, dass sowohl der Hund als auch die Katzen nicht überleben werden, was ebenfalls die Spannung steigen lässt. Nicht zuletzt trägt zu der anhaltenden Spannung die Tatsache bei, dass es sich bei der Protagonistin um eine dynamische Figur handelt, die sich im Laufe der Handlung mehrfach verändert.

Dabei geht es in dem Roman nicht ausschließlich um den Versuch in der neuen Realität zu überleben, sondern auch darum, außerhalb der Zivilisation eben über diese nachzudenken. Oft ist man unbewusst in einem Geflecht aus zwischenmenschlichen Beziehungen, Abhängigkeiten und Verpflichtungen gefangen, sodass die eigenen Wünsche und Ziele allmählich unbeachtet bleiben.

Kontexte

Außerdem wird auf der Handlungsebene die Tatsache angesprochen, dass die Menschen bereits verlernt haben, für sich selber das Essen anzubauen und körperlich zu arbeiten. Diese Entfremdung von der Arbeit und der Natur erinnert mich an Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, in dem von der Entfernung der Arbeiters von der Arbeit gesprochen wird. Seit der industriellen Revolution müssen nämlich nicht mal die Handwerker:innen den ganzen Prozess der benötigten Arbeiten kennen. Denn ihre Arbeit wird zum Teil durch die Maschinen ersetzt, wodurch ihr Wissens bezüglich der Herstellung und Erzeugung der Produkten verloren geht. So hat sich auch die Menschheit selbst im Verlauf der Jahrhunderte immer weiter von der Natur und der Notwenigkeit entfernt, das eigene Essen anzubauen oder die Erzeugnisse haltbar zu machen. Denn wer weiß denn noch, wie man beispielsweise Möhren über den Winter haltbar halten kann, wenn man sie im Lebensmittelgeschäft frisch kaufen kann? Seitdem man alles Mögliche fürs Geld kaufen kann, hat der Mensch es verlernt, die eigene Nahrung mit den eigenen Händen zu erzeugen. So stellt die Protagonistin mehrfach mit Bedauern fest, dass ihr das nötige Wissen um die Pflanzen und Tiere fehle.

Sichtbar wird in dem Text zudem der Einfluss des Existentialismus, d.h. (verkürzt dargestellt) die Überzeugung, dass alles, was passiert in unserer Hand liegt, d.h. wiederum: wenn etwas schief läuft, sind wir dafür auch selber verantwortlich. Allerdings auch hier kann die Protagonistin ihre Situation nur zum bestimmten Grad in die Hand nehmen, da sie nur im Rahmen bestimmter Grenzen agieren kann. Und auch innerhalb der unsichtbaren Wand kann die äußere Welt ihre Pläne durchkreuzen.

Was ist die Aussage auf der Tiefenebene?

Jeder gute Text verfügt über zwei Ebenen. Auf der Oberflächenebene wird eine bestimmte Geschichte erzählt. In diesem Fall eine Geschichte der Frau, die von der Zivilisation abgeschnitten wurde und in der neuen Realität auf sich selbst gestellt wird. Auf der Tiefenebene lassen sich aber auch andere Aussagen der Texte finden, und zwar zum Einen, dass der Mensch die wahre Verbundenheit zur Natur verloren hat und zum Anderen, dass sich das "echte" Leben nur in der Natur realisieren lässt.

Auch die Stärke der Frauen wird hier betonnt. Denn während die Figur in ihrem früheren Leben eher den Männern dienlich war, so zeigt sie in dem neuen Leben ihre wahre Stärke. (Anders als der einzige Mann, der gegen Ende des Romans vorkommt, der es offensichtlich nicht geschafft hatte, sich einzurichten und der neuen Realität anzupassen.)

Meine neue Leseerfahrung

Ich habe zu Beginn des Textes behauptet, dass man heutzutage diese Dystopie - und womöglich auch viele andere - anders liest als noch vor der Pandemie. Zumindest erging es mir so, dass ich mich bei der Lektüre immer wieder befragte, ob ich an der Stelle der Protagonistin das eine oder andere ebenfalls geschafft hätte. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich dieses Buch noch vor der Pandemie anders gelesen hätte. Die Handlung hätte ich mit weniger Teilnahme gelesen. Denn seit dem Ausbruch der Pandemie und insbesondere seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind solche postzivilisatorischen Realitäten tatsächlich denkbar geworden. Also eine Realität, in der der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wird und für das eigene Überleben kämpfen muss.

Fragen, die man in einem Bücherclub weiter diskutieren könnte

  • Wie fand ich die Handlung? Was hat mir gut gefallen und was erreichte mich nicht?

  • Kann ich mich mit der Figur identifizieren? Was haben die Figur und ich gemeinsam? Was unterschiedet uns voneinander?

  • Wie würde mein Leben verlaufen, wenn ich etwas ähnliches erleben würde? Wie würde ich vorgehen?

  • Bin ich mit meinem aktuellen Leben zufrieden? Gibt es auch in meinem Leben Sachen, die ich nur mache, weil es andere wollen?

  • Wie geht es weiter? Wie könnte der Roman weiter gehen?

  • Wir lesen ja den Bericht - wie ist das möglich?

  • Die Entfremdung der Menschheit von der Natur - was sind die Gefahren?

  • Was hat mich dieses Buch gelehrt? Hat mich das Buch nachhaltig verändert? Inwieweit?

Viel Spaß bei der Lektüre und bei der anschließenden Diskussion!


 

Schaue Dir auch meine Videobesprechung (YouTube) zu diesem Roman an:



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