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  • AutorenbildBozena Badura

Fremde Literaturwelten? - Literatur aus den Niederlanden und Flandern

Im Frühjahr 2024 präsentierten sich die Niederlanden und Flandern auf der Leipziger Buchmesse. Beide Literaturen vereint nicht nur eine zum Teil gemeinsame Geschichte, sondern vor allem die gemeinsame Sprache. Auch in diesem Frühjahr hatte ich die große Freude, in Essen eine Matinee zum Gastland der Buchmesse machen dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich insgesamt 12 Bücher ausgesucht, die ich in diesem Rahmen vorstellen möchte.


Gleiche Sprache, gleiche Literatur?

Was mich abgesehen von den Büchern an sich auch sehr interessiert hatte, war die Frage, worin sich die Literatur beider Regionen unterscheidet. Meine Nachforschungen ergaben dabei einen Unterschied, der mir auch geholfen hat, die niederländische Literatur besser zu begreifen. Denn während die Flamen sehr bedacht an die Literatur herangehen und mit einer literarischen und ästhetischen Sprache die Tiefen der Welt erkunden, bleiben die Niederländer sehr oft nah an der Realität und wortkarg. Sie liefern die Fakten. Die Tiefenebene muss man sich hier selbst erarbeiten. Dies ist jedoch - zugegeben - eine Verallgemeinerung, die selbstverständlich nicht auf alle literarischen Werke der Regionen zutrifft.


Wie steht es dabei um die Lyrik?

In den Niederlanden und Flandern wird regelmäßig eine Woche der Lyrik organisiert, sodass die Lyrik auch einen Platz in der Literaturlandschaft des Landes hat. Leider ist die Lyrik jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung genau so unterrepräsentiert, wie dies auch in Deutschland der Fall ist. Dennoch ist die Lyrik vielfältig und entwickelte auch in den niederländischsprachigen Regionen neue Genres, wie Slam Poetry, Spoken Word oder Instapoesie.

Einen guten Einblick in diese Poesie liefert Trimaran - Lyrikmagazin für Deutschland, Flandern und Niederlande.

Außerdem ist im Verlag dem Aachener Literaturverlag [SIC] im Vorfeld der Leipziger Buchmesse ein Sammelband erschienen: "Polderpoesie. Junge Lyrik aus Flandern und den Niederlanden". Herausgegeben von S. Wieczorek und C. Wenzel.






Die lange Form


J.J. Voskuil - Das Büro Bd. 1 - Direktor Beerta (Verbrecher Verlag)

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse.


Dieser Roman gehört zu den modernen Klassikern der niederländischen Literatur. Der insgesamt über 5000 Seiten starke Roman, dessen Handlung in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielt, erschien in den Niederlanden zwischen den Jahren 1990 und 1995 und war sofort ein Bestseller – die Menschen standen Schlange für jeden neuen Band, es gab Fanclubs und sogar Führungen durch die Originalräume des Instituts. Im Zentrum des Romans stehen neben weiteren Arbeitskolleginnen und Kollegen zwei Figuren Marteen Koning und der Direktor Beerta. Die Faszination für diesen Roman lässt sich mehrfach begründen. Einerseits handelt es sich hierbei um einen humoristischen Schlüsselroman, in dem überspitzt und ironisch bis hin zu sarkastisch überzeichnete bekannte Persönlichkeiten damaliger Zeit vorkamen. Andererseits handelt es sich hierbei um eine Serie, die nicht nur ein Teil der Zeitgeschichte präsentierte, sondern auch der niederländischen Gesellschaft einen Spiegel vorhielt. Denn das von Beerta gegründete Institut entstand zur Erforschung des niederländischen Volksglaubens und einige der Forschungsergebnisse auch in die Handlung des Romans mit eingeflossen sind, sodass die Leserinnen und Leser auch mit der eigenen Kultur und den Eigentümlichkeiten der nationalen Identität konfrontiert wurden.


Gerbrand Bakker - Der Sohn des Friseurs (Suhrkamp)

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke


Gerbrand Bakker wurde mit seinem ersten Roman "oben ist es still" weltweit bekannt und geliebt. Seit dieser Zeit erschienen mehrere seiner Bücher, wobei es die letzten Jahre hauptsächlich autofiktionale wenn nicht sogar autobiografische Texte gab. Der Sohn des Friseurs ist nun der erste Roman seit fast sieben Jahren. Es ist eine Geschichte von Simon, dessen Vater noch vor Simons Geburt in einem Flugzeugunfall auf Teneriffa verunglückte. Simon ist mittlerweile Ende zwanzig, hat - wie sein Vater und sein Großvater - den Beruf des Friseurs erlernt und den Friseursalon übernommen. Nun fängt er urplötzlich an, sich Gedanken über den eigenen Vater und seinen Tod zu machen. Der Auslöser war ein Besuch eines Schriftstellers, der einen Roman über eine Flugzeugkatastrophe zu schreiben beabsichtigt. Bakker konstruiert hier eine Doppelung der Handlungsebene, da es im Roman des Schriftstellers ebenfalls um einen Friseur gehen soll, der in dem zu beschreibenden Flugzeugunfall seinen Vater verloren hat. Nun stellt Simon Nachforschungen an, befragt seine Mutter und seinen Großvater zu den Umständen, zum früheren Leben. Wie nebenbei geht er dann seinem Beruf nach, geht regelmäßig schwimmen und hilft seiner Mutter, einen Schwimmkurs für Jugendliche mit Behinderung zu betreuen. Dieser Roman ist mit einer nüchternen, berichtenden Sprache geschrieben, in der es keine unnötigen Schnörkel gibt. Auch der psychologische Hintergrund scheint für den Autor keine große Rolle zu spielen. Zwar scheint die Handlung nicht immer ausreichend motiviert zu sein und einige Stellen zu dem auf Tatsachen basierenden Unfall zu viele Informationen vermittelt werden, die keinen direkten Mehrwert für den Text haben, dennoch ist die Geschichte - vor allem um die Lebensgeschichte des Vaters - eine angenehme Lektüre.


Gaea Schoeters - Trophäe (Zsolnay)

Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Jagdroman. Ein literarisches Genre, dessen Höhezeit bereits länger zurückliegt. Umso spannender erscheint die Neuausrichtung und der aktuelle Fokus dieses Romans. Es geht um einen amerikanischen Jäger mit dem sprechenden Namen Hunter White, der zu seinem Reichtum durch Spekulationen auf der Börse und weitere spekulative Geschäfte, die sich an der Grenze des Legalen bewegen. Das Ziel seiner aktuellen Jagdreise ist die letzte noch offene Trophäe auf seiner "Big Five"-Liste, ein Nashorn. Doch als ihm Wilderer zuvorkommen und das genehmigte Tier töten, bietet ihm sein Jagdherr, Van Heeren, eine Alternative - "The Big-Six" - eine Menschenjagd.

Trotz der verstörenden Handlung, die die Leser*innen mehrfach an ihre Grenzen zu bringen vermag, handelt es sich hierbei um einen Roman, der durch seine Struktur und Aufbau der Handlung, durch den Spannungsbogen, die hervorragende Figurenzeichnung, die bildhafte und lebendige Sprache bei den Natur- und Jagdbeschreibungen und durch das Spiel mit der Moral der Leserschaft aus der Menge der Neuerscheinungen heraussticht.



Lize Spit - Der ehrliche Finder (Fischer)

Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen


In dem Roman geht es um zwei Jungs, die Freunde werden. Einer der beiden ist als Flüchtling nach Belgien gekommen. Nun sollte seine Familie abgeschoben werden. Die Handlung des Romans dauert ca. 24 Stunden. Wir erfahren, wie die Freundschaft der beiden Jungs begann, wie sie sich entwickelte und werden zu Zeugen einer Katastrophe. Hierbei handelt es sich jedoch um kein gewöhnliches Buch, sondern um eine Auftragsarbeit als Buchgabe während der Literaturwoche 2023. So hat der Roman eine Auflage von über 600.000 Exemplare erreicht, da es bei einem Bücherkauf als ein Geschenkt dazugegeben wurde. So lässt sich behaupten, dass die Mehrheit der Niederländer und der Flamen ein Exemplar dieses kurzen Romans in seiner Bibliothek stehen hat.


Simone Atangana Bekono - Salomés Zorn (C.H. Beck)

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm.


Der Roman beginnt mit einer Einweisung der Protagonistin in ein Gefängnis für Minderjährige. Sie übte Gewalt aus, weil sie zwei Jungs rassistisch behandelt haben. Dafür wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, während der sie an einer Therapie teilnehmen muss. Ihr Therapeut ist aber ausgerechnet ein Mann, der in den Monaten zuvor in einer Fernsehsendung zu sehen war. Diese Sendung sollte das Leben primitiver Völker vorstellen, indem Freiwillige für einige Wochen zusammen in dem Dorf leben und an dem Alltag der Einheimischen teilnehmen mussten. Nicht immer war die Darstellung der Völker deren Tradition gerecht, sondern stellte sie in der Abgrenzung zu dem westlichen Europa als primitiv, ungebildet und unmenschlich. Daher weigert sich Salomé lange Zeit, sich von dem Arzt therapieren zu lassen. Der Roman stellt die Geschichte der Familie vor, den Vater, der als Kameruner in die Niederlande kam, die kleinen und größeren Akten von Rassismus im Alltag, die Überlegungen über das Zusammenleben, über das Fremdsein, über die Anpassung und Integration.


Fien Veldman - Xerox (Hanser)

Aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp


Ein Roman über die moderne Arbeitswelt, in der die Figuren auf ihre Funktion reduziert und der Büroalltag zugespitzt werden. Die namenlose Protagonistin ist allergisch gegen Stress. Aus diesem Grund darf sie nur Arbeiten verrichten, die keinen großen Stress hervorrufen können. So arbeitet sie in der Poststelle eines jungen Unternehmens. Sein täglicher Begleiter ist ein Kopiergerät, mit dem sie sich während der Arbeitszeit gerne unterhält. Dass aber auch das Kopiergerät ein Innenleben hat, wird lange nicht klar. Es handelt sich in dem Roman auch über das Bild der heutigen Gesellschaft, wie in einem Hamsterrad gefangen, alle Menschen und Geräte, die nicht genügend Beitrag leisten, entsorgen.



Nina Polak - Zuhause ist ein großes Wort (mare Verlag)

Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel


Last but not least. Denn in diesem Roman wird - doch nebensächlich - die Seglernatur der Niederländer thematisiert. Die 30-jährige Skip, die ihre letzten sieben Jahre damit verbracht hat, Yachten reicher Menschen in warme Regionen zu überführen, kommt nach Amsterdam zurück und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie wird wieder in der früheren Pflegefamilie aufgenommen, trifft sich mit ihrer früheren Beziehung, wird von dem Sohn der Pflegeeltern in die digitale Welt eingeführt und bekommt eine Chance auf ein "normales" Leben. Damit scheint sie aber aufgrund der eigenen Vergangenheit überfordert zu sein. Als die Pflegefamilie ihr Zimmer für die demente Großmutter braucht, entflieht sie zurück aufs Meer. Es geht in diesem Roman um die Klassenunterschiede, um die neue digitale Welt und darum, wie uns das Leben jeden Tag formt und verändert.


 

Hier geht es zu einem Video auf YouTube, in dem ich viele der Bücher als Neuzugänge kurz vorgestellt habe:





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