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  • AutorenbildBozena Badura

[Literaturpreis] Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" oder die unsichtbare Macht der Literatur?


Kann dieser Roman die Gesellschaft spalten? Spontan wäre man geneigt zu sagen, dass Bücher nicht so viel Kraft hätten, die Menschen dermaßen zu beeinflussen. Sind Sie aber nach der Lektüre dieses Artikels noch immer der Meinung?


Im Frühjahr 2019 wurde "Schäfchen im Trockenen"* von Anke Stelling (Verbrecher Verlag) mit dem Preis der Leipziger Buchmesse gekürt. Die Jury begründete ihre Wahl wie folgt:

„Schäfchen im Trockenen“ ist ein scharfkantiger, harscher Roman, der wehtun will und wehtun muss, der protestiert gegen den beständigen Versuch des besänftigt Werdens, der etwas aufreißt in unserem sicher geglaubten Selbstverständnis und dadurch den Kopf frei macht zum hoffentlich klareren Denken. (Quelle)

Schwammiger und allgemeiner könnte die Begründung der Jury wohl nicht ausfallen. Dabei scheinen sich die JurorInnen auf den Inhalt zu berufen. Auch die geäußerte Hoffnung, der Roman würde den Kopf zum klareren Denken freimachen, scheint hier falsch zu sein, denn meiner Ansicht nach kann er nur zur Verhärtung der Fronten führen. Doch auf die Wirkung kommen wir noch zurück...

Die Handlung des Romans setzt sich aus zwei Elementen zusammen: Einerseits erzählt Resi ihrer 15-jährigen Tochter die ganze Wahrheit über die Welt, wobei sie darauf hinweist, dass die Elterngeneration (des Sozialismus?) sie (Resi) belogen hätte, als sie behauptete, die Menschen seien unabhängig von der sozialen Herkunft gleich und die gesellschaftliche Stellung sei durch die Bildung zu erreichen. Andererseits wird Resi eine lebenslange Freundschaft (und damit eine billige Wohnung in guter Lage in Berlin) gekündigt. Der Grund dafür ist Resis Artikel, der ihren Freundeskreis harsch anging und fast an den Pranger stellte. Warum? Weil es ihren Freunden finanziell viel besser geht als ihr selbst. Verantwortlich dafür wird die soziale Herkunft gemacht. Kinder aus armen Familien hätten keine Chancen auf eine gute Zukunft, scheint das Statement des Romans zu sein. Dabei ist die Torpedierung der Freundschaft (seitens Resi!) doch keine Lösung, sondern beschleunigt noch den Abstieg.


Wer erzählt aber diese Geschichte und welchen Einfluss hat die Auswahl der Erzählstimme für den Text und seine Rezeption? Bei diesem Roman handelt es sich um eine Ich-Erzählerin, d.h. um die subjektivste und emotionalste Erzählform der Literatur, was bedeutet, dass die Sichtweise der Figur dem/der Leser/in ungefiltert und keine objektive Wahrheit geliefert wird.

Der Roman ist ein Bericht einer überforderten vierfachen Mutter, Anfang/Mitte 40, Schriftstellerin, Kettenraucherin, die nicht mal über die unterste Stufe der Maslowschen Bedürfnispyramide hinausgehen kann. Es ist daher ein Blick von unten nach oben, und dieser ist selten frei von Neid. Auch Resi findet ihre Lage ungerecht. Dieser Roman ist daher durch eine negative Selbstwahrnehmung einer Figur geprägt, die sich selbst in einer Opferrolle sieht.

Ich will kein Opfer sein, ich bin stark.

Bei der Analyse des Romans ist daher stets zu bedenken, dass wir bei der Darstellung über kein Korrektiv verfügen, über keine Gegendarstellung. Denn vielleicht sehen Resis Freunde die ganze Situation doch anders?


Die großen Themen dieses Romans sind u.a. die Bildung als Garant des Wohlstandes (womit aber nur eine Bildung im Sinne von Humanismus gemeint ist), Klassenunterschiede und die Machtverteilung in der Gesellschaft.


Im Kapitalismus zählt geistiges Kapital bekanntlich wenig. Vor allem die im Sozialismus aufwachsende Generation musste erfahren, dass das "neue" kapitalistische System nach anderen Spielregeln funktioniert. Auch Resi scheint eine solche Figur zu sein. Darauf hoffend, der Staat würde sich schon um seine Künstler kümmern, versäumte sie vorzusorgen. Nun steht sie in der Mitte der Berufstätigkeit und sieht, dass ihre Freunde (Ärzte, Architekten) viel mehr Wohlstand erwirtschaftet haben als sie selbst. Dennoch führt diese Erkenntnis bei dieser Figur nicht zur Korrektur des bisherigen Verhaltens (denn sie könnte ja aufhören zu rauchen, was schon ein großes Ersparnis bedeutete), sondern nur zu einem Gejammer über die eigene scheinbar ausweglose Situation. Dabei finde ich, als Rezipientin dieses Romans, nicht ihre schlechte wirtschaftliche Situation als die richtige, kulturpolitisch muss und wird in diesem Bereich noch viel passieren, sondern um die einseitige Darstellung und die Abschiebung der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen. Hier bin ich ganz bei Sartre und seinem Existentialismus und auf einer Gegenposition zu der Ich-Erzählerin, die sich jedoch hier und da einsichtig zeigt. 

Wenn es jedoch keinen Gott gibt, sondern alles unsere Entscheidung, unser selbst gewählter Lebenslauf ist, dann wiegt die Verantwortung schwer. Dann muss ich dieses "Selber schuld" aus deinem Mund als Echo meiner Heidenangst verstehen, dann hab ich nicht das Recht, dir den Mund zu verbieten, sondern sollte dir dankbar sein für den Hinweis.

Wahrscheinlich hofft die Figur auf die Veränderung der Situation, indem sie Preise für ihre Texte bekommt, was am Ende des Buches (und auch in der außertextuellen Realität für die Autorin selbst) tatsächlich passiert. Was ebenfalls aktuelle Diskussion im Literaturbetrieb anspricht. Denn Literaturpreise waren z.B. auf der Frankfurter Buchmesse 2019 ein Gesprächsthema. (hier)


Das zweite große Thema des Romans ist die Zugehörigkeit zu den sozialen Klassen, die nach der Höhe des Vermögens gebildet werden. Klassenunterschiede stehen dabei seit einigen Jahren auf der politischen Agenda Deutschlands. Auch immer wieder berichten verschiedene Massenmedien darüber, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien weniger Chancen hätten als Kinder reicher Eltern, womit sie den Glauben daran noch weiter verfestigen, statt Lösungen und Wege anzuzeigen. Eben dies wird hier thematisiert. Doch wieder nur als Anklage. Denn wie Resi selbst sagt, sie hätte auch Jura studieren können, womit sie sicher bessere finanzielle Lage erreicht hätte. Dennoch entschied sie sich für Literatur - für die brotlose Kunst, die sie ins Prekariat gedrängt habe. (Interessant, doch schon fast zu auffällig und am Rande einer Didaktisierung, ist auch der Zeigefinger des Romans - die Geschichte von der Dichtermaus, die den anderen Mäusen mit ihren Geschichten geholfen hat, den kalten Winter zu überstehen.) Die Klassenunterschiede werden in dem Roman deutlich herausgestellt und für alles Mögliche verantwortlich gemacht:


Ungleichheit teilt uns in die, die Privilegien haben und die, die sie nicht haben, und das ist für alle, die sich nach Gerechtigkeit sehen, ein Problem.

Ich denke, wir haben extrem unterschiedliche Voraussetzungen gehabt und das tunlichst ignoriert, und ich denke, dass das immer noch so ist oder noch mehr und dass es mehr denn je ignoriert wird, schlimmer noch, bemäntelt mit neoliberalem Geschwätz von Aufstiegschancen und weiß man doch, und ich wage kaum, das zu sagen, weil du auch eingestimmt hast in dieses fiese Lied mit dem Vorwurf, ich würde mich zum Opfer stilisieren, und ich glaube durchaus, dass ich Schuld trage und andere unter mir leiden, aber dass ich trotzdem noch das Recht habe, über Ursachen nachzudenken und auch darüber zu reden...

Auch die Machtverteilung in der Gesellschaft wird angesprochen: 

In willkürlich gebildeten Gemeinschaften ist wichtig, wer man ist. Und wer man ist, ist nichts anders als das Maß an Macht, das man besitzt [...].

Nun kommen wir aber zu der Ausgansfrage der vorliegenden Analyse: Könnte der Roman die Gesellschaft spalten?

Bekanntlich führt eine hohe Identifikation mit einer Romanfigur zur Akzeptanz oder sogar zur Übernahme ihrer Ansichten. Je ähnlicher uns selbst eine Figur erscheint, desto sympathischer finden wir sie. Zudem wird die Sympathie durch einen Einblick in das Innere (Gedanken und Gefühle) der Figur gesteigert.

Bedenkt man nun die (zugespitzte) Aussage des Textes, dass die Klassenunterschiede und die schlechte Vorbereitung auf den Kapitalismus durch die Eltern daran schuld seien, dass es Resi schlecht geht, lassen sich folgende Wirkungspotentiale erkennen, die von der Ausgangssituation des Rezipienten abhängen.

Gehört der/die Leser/in der Gruppe von Menschen an, die statt zu jammern, tätig werden, und eine konstante Verbesserung der eigenen Situation anstreben, werden sie bei der Lektüre ein zunehmendes Unverständnis für die Figur entwickeln. Sie würden eher dazu neigen, die Schuld für die gegebene Situation in Resis Handeln sehen und die Position der Freunde verteidigen, denen es sichtlich nicht so einfach fällt, Resi auszuklammern, was Resis Behauptung, die Freunde würden sie nur als die Quotenarme und die Exotin unter ihnen akzeptieren, revidiert.

Gehört der/die Leser/in allerdings denjenigen Menschen an, die sich selber als Verlierer des kapitalistischen Systems verstehen, werden sie Resis Ansichten mit Beifall willkommen heißen. Denn endlich fühlen sie sich verstanden, endlich wagt jemand "ihre Wahrheit" laut auszusprechen.

Diese Ansichten repräsentieren zwei Extrempositionen und der Roman versucht hier nicht zu vermitteln, er versucht nicht, die andere Seite zu beleuchten, das Thema objektiv anzugehen. Nein. Der Roman stellt sich entschieden an die Seite der vermeintlichen Opfer.

Dies führt unweigerlich zur Frage nach der Funktion der Literatur und die preiswürdigen Vorzüge eines Buches. Dabei scheint eben die gesellschaftliche Relevanz für die Literaturkritik sowie für viele Jurymitglieder verschiedener Literaturpreise für ihr Urteil über ein Buch von Bedeutung zu sein. Die gesellschaftliche Relevanz bedeutet dabei die Verarbeitung aktueller Diskurse. Reicht es aber aus, dass ein Buch gesellschaftlich relevante Themen anspricht, ohne dabei zu berücksichtigen, wie diese Darstellung realisiert wird, ob sie zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses oder zur Verhärtung der Fronten führt?



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