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  • AutorenbildBozena Badura

Grenzen der Literaturkritik? – Zur Bachmannpreis-Diskussion 2019


(c) ORF/Johannes Puch

Bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2019 gab es ein interessantes Phänomen, und zwar weigerten sich Teile der Jury über manche Texte ästhetisch zu urteilen. Sind damit die Grenzen der Literaturkritik gezogen worden? Oder sind es vielmehr die Literaturkritiker, die ihre eigenen Grenzen eingestehen mussten?


Die Grenzen der Literatur sind die Grenzen der Literaturkritik


Bei dieser Jury-Diskussion wurde klar, dass es sich hierbei um eine grundlegende Frage nach der Beschaffenheit der Literatur handle: In den letzten Jahren erfuhr der Literaturbegriff nämlich eine enorme Ausweitung. Es lässt sich behaupten, dass eins der ältesten (auch wenn keins der zwingend notwendigen) Kriterien der Literatur ihre Fiktionalität ist. Dies beobachtete bereits der vielleicht älteste Literaturwissenschaftler – Aristoteles, als er einen Unterschied zwischen dem Chronisten und dem Dichter herausarbeitete:


»Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte.«[i]


Aufgrund des stetigen Wandels ihrer Formen und Ansätze ist es heutzutage nicht möglich, die „Literatur“ eindeutig zu definieren. Daher bleibt uns vielleicht nur das Kriterium der Literatur als Kunst, d.h. ein nicht direkt die Wirklichkeit abbildendes Werk, das eine ästhetische Wahrnehmung ermöglicht. Mehr Subjektivität gibt es wahrscheinlich nicht… Und auch wenn sich die Literaturkritik stets um objektive Kriterien des ästhetischen Urteils bemüht, bleibt sie dennoch subjektiv. Dies konnte an der Jurydiskussion zu Ronya Othmann, Lukas Meschik oder Martin Beyer beobachtet werden.

So müsste man die Ausgangsannahme revidieren und behaupten, dass alles, was Literatur ist, auch der Literaturkritik unterzogen werden darf, doch das, ob ein Werk als (gute) Literatur gilt, von dem subjektiven Urteil des Literaturkritikers abhängt.


Die individuellen Grenzen der Literaturkritik(erInnen)


Wie der/die jeweilige Literaturkritiker/in über die Literatur urteilt, hängt von seiner Auffassung der Aufgabe der Literaturkritik ab. So verstand sich beispielsweise der Aufklärer Johann Christoph Gottsched „als Richter, der den naturgemäßen Gesetzen der allgemeinmenschlichen Vernunft und seinen Urteilen über Literatur Geltung verschafft, und als Erzieher, der den vernunft- und regelwidrigen Geschmack des Publikums verbessert.“[ii] Gotthold Ephraim Lessing verstand sich dagegen in der Rolle eines Anwalts, der dem Rezipienten das letzte Urteil über das Buch überlässt, der aber dennoch mit einer polemischen Energie zur Dynamisierung der literarischen Debatte beiträgt. Johann Gottfried Herder dagegen verstand sich als Diener und Freund des Autors.[iii]


Das letzte Rollenverständnis eines Literaturkritikers gleicht dem des Lesers. So war z.B. für Hermann Hesse die Rezensententätigkeit primär ein Dienst am Publikum. Er weigerte sich negative Kritiken zu schreiben, womit er eine der wichtigsten Funktionen der Kritik, die Sanktionsfunktion, d.h. das Aussortieren neu erschienener Bücher aufgrund negativer Werturteile, ablehnt. Denn Hesse will nur solche Bücher besprechen, die er für lesenswert hält. Somit ist seine Haltung als Literaturkritiker durch Affirmation und den Vorsatz, alleine durch die Auswahl zu werten, gekennzeichnet. Seinen Anspruch formuliert er zu Beginn seiner Mitarbeit für die schwedische Zeitschrift "Bonniers Litterära Magasin" wie folgt: "Im Ganzen gilt mir als Grundsatz: das Gute anerkennen und propagieren, das Geringe gar nicht diskutieren!"[iv] Dieses Rollenverständnis hat sich in der Literaturkritik zunehmend verbreitet und wäre, nach manchen vorgebrachten Argumenten zu urteilen, auch einigen der Bachmannpreis-Juroren zu attestieren.


Dabei gibt es eine ganze Typologie von verschiedenen Wertmaßstäben (in vier Gruppen von Bewertungskriterien zusammengefasst), nach denen sich literarische Werke urteilen lassen: die formal-ästhetischen, die inhaltlichen, die relationalen und die wirkungsbezogenen Maßstäbe.[v] Beobachtet man die heutige Literaturkritik (darunter insbesondere die Literaturblogs aber auch die Berufsliteraturkritik), ließe sich schnell feststellen, dass die Erkenntnisbedeutsamkeit besonders hoch gewertet wird, also die subjektive und kollektive Relevanz der Einsichten und Erkenntnisse des literarischen Werkes. Bei der Beurteilung der literarischen Qualität spielen zudem oft affektive wirkungsbezogene Wertmaßstäbe, wie Rührung und Mitleid oder Identifikation des Lesers mit einer oder mehreren Figuren, eine Rolle.[vi] Doch am wichtigsten scheinen die hedonistischen wirkungsbezogenen Wertmaßstäbe zu sein, d.h. die von der Lektüre literarischen Texte ausgelösten Gefühle der Lust oder Unlust.[vii] Diese orientieren sich u.a. an dem Unterhaltungswert oder der Erzeugung von Spannung im Leseprozess. Diese Kriterien spielten auch bei den drei angesprochenen Texten beim diesjährigen Bachmannpreis eine Rolle. Zwar wurden sie nicht direkt so formuliert, dennoch lassen sie sich in den hervorgebrachten Argumenten wiedererkennen. Dagegen werden die formalen axiologischen Werte, die sich an formal-ästhetischen Maßstäben orientieren, wie z.B. die Offenheit oder Geschlossenheit des Werkes, die Stimmigkeit seiner Ebenen oder auch seine Komplexität, oft nur am Rande behandelt.


Die Fülle an verschiedenen Kriterien und die persönliche Einstellung des Literaturkritikers/der Literaturkritikerin und das Verständnis seiner/ihrer Rolle und der eigenen Funktion im Literaturbetrieb entscheiden darüber, wie er/sie mit dem literarischen Werk umgeht und wie er/sie beurteilt. Daher ist es für die Gewährleistung einer möglichst objektiven Beurteilung von literarischen Werken wichtig, in einer Jury verschiedene Kritiker-Typen vertreten zu haben. Dies trägt indirekt auch dazu bei, die Diskussion spannender zu gestalten, denn Texte, die verschiedene Kritiker-Typen unterschiedlich ansprechen, können einen regen Austausch hervorbringen.



[i] Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1991, S. 29


[ii] Thomas Anz: Theorien und Analysen zur Literaturkritik und zur Wertung. In: Thomas Anz, Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Mit Beiträgen von Thomas Anz, Rainer Baasner, Ralf Georg Bogner, Oliver Pfohlmann und Maria Zens. 4. Aufl. München: Beck Verlag 2007. S. 194-219. Hier S. 196.


[iii] Vgl. ebd.


[iv] zit. n. Annette Kym, Hermann Hesses Rolle als Kritiker, Eine Analyse seiner Buchbesprechungen in 'März', 'Vivos Voco' und 'Bonniers Litterära Magasin', Peter Lang 1983. S. 21.


[v] Vgl. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1996. S. 125.


[vi] Ebd., S. 127.


[vii] Ebd., S. 128.

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