Mit seinem Roman "Der Stotterer" (erschienen 2019 im Diogenes Verlag) legte der Schweizer Charles Lewinsky ein Buch über die Macht der Sprache und die Funktionsweise der Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft vor.
Viele Menschen kommunizieren in ihrem Alltag im Modus des Autopiloten: Sie erzählen allerlei Geschichten, meist ohne sich davor zu fragen, wie diese alltäglichen Erzählungen die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen oder wie sie auf unser Gegenüber wirken könnten. Es sind des Öfteren automatische Programme, die ablaufen, ohne dass wir sie in Frage stellen... Dabei hat die Sprache eine unvorstellbare Macht, die bereits mit der Wortwahl beginnt. Wie dies in der medialen Alltagskommunikation funktioniert hat bereits (sehr anschaulich und mit aktuellen Beispielen aus der Politik und den Medien!) das Buch "Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht" von Elisabeth Wehling* gezeigt. Nun wird die Wirkung der Sprache literarisch behandelt.
Johannes Hosea Stärckle - der Protagonist des Romans und der titelgebende "Stototterer" - setzt sich intensiv damit auseinander, welche Wirkung die gewählten Worte auf bestimmte Empfänger haben können.
Da hat man sich solche Mühe mit den Formulierungen gegeben, hat versucht, sich den Empfänger und seine Denkweise exakt vorzustellen und die Falle so nach Maß zu konstruieren, dass er gar nicht anders kann, als hineinzutappen, nun möchte man doch auch sehen, wie er darauf reagiert.
Schon in frühen Jahren muss er schmerzhaft lernen, dass für die perfekte Illusion eben die Berücksichtigung der Perspektive des Schreibenden und des Empfängers entscheidend ist. Sein Meisterstück sind seine "Brieffreundschaften" mit älteren Damen, denen er vorgaukelt der verlorene Enkel zu sein, der im Moment allerdings in fremden Ländern verweilt. Entwickelt die vermeintliche Großmutter genug Vertrauen, folgen die ersten (kostspieligen) Probleme des Enkels... und es wäre alles gut gelaufen, hätte er nicht eine besondere Vorliebe für manche wohlklingenden Ausdrücke entwickelt, die in seinen Briefen an verschiedene Großmütter verteilt, eine unsichtbare Spur entstehen ließen und ihn zum Opfer der eigenen Eitelkeit machten.
Doch seine Sprache hat nicht nur die Macht, ihm Geld zu bringen, sondern beeinflusst auch zum Teil das Wohlwollen der Leser dieser Figur gegenüber. Denn bei Johannes Hosea handelt es sich zwar um einen Betrüger, der verdient hinter den Gittern sitzt... oder doch nicht? Vielleicht ist er doch nur Opfer seiner eigenen Kindheit? Denn er ist als Sohn eines streng gläubigen Vaters, der bei jeder Gelegenheit die Bibel zitierte, und zudem ist er in einer Sekte aufgewachsen. Muss man da nicht automatisch zu einem Verbrecher werden? Und was ist mit den einsamen älteren Frauen? Sie hätten ihr Geld sowieso ausgegeben und dank ihm hatten sie zumindest die letzten glücklichen Momente im Herbst ihres Lebens gehabt, als sie glaubten, es gibt noch jemanden, der sich nach ihnen sehnt... und wie er doch mit der Mutter Spackmann umging. Der Junge hat wirklich ein gutes Herz! Und genau diese Milderung seiner Taten, diese Umkehrung vom Täter zum Opfer bzw. vom Täter zum Retter hatte wohl der unzuverlässige Erzähler dieses Romans - der JVA-Insasse Johannes Hosea - beabsichtigt. Denn warum erzählte er uns eben diese Geschichten und keine anderen? Und stimmen diese Geschichten überhaupt? Denn bereits zum Beginn des Romans warnt Johannes Hosea den Padre - und indirekt auch den Leser:
Allerdings kann ich nicht garantieren, dass Sie in jedem Fall die Wahrheit zu lesen bekommen.
Die Macht, als die Möglichkeit die äußere Welt bzw. die Realität nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen zu formen, wird hier zudem auf der Handlungsebene verhandelt. Die führende Figur ist hier der "Advokat" - ein geheimnisvoller Häftling, dessen Möglichkeiten weit über die Mauer des Gefängnisses hinausreichen. So muss sich der Leser bzw. die Leserin stets fragen, wer sich eigentlich hinter dem Manne versteckt... Der "Advokat" scheint nur der Hals einer mit tausend Armen ausgestatteten Krake zu sein. Wem darf man vertrauen und wem nicht?
Letztendlich geht es um die Wirkmacht der Literatur - eine passgenaue Geschichte soll dem Leser geliefert werden. Man stelle sich den Empfänger vor, man überlege, was er gerne hören möchte und man schreibe es. Wie hat sich der implizite Autor also seine LeserInnen vorgestellt? Dass das Buch für das deutsche Publikum verfasst wurde, ist schon dadurch klar, dass der Autor - trotz seiner Wohnsitze in der Schweiz und in Frankreich - die Handlung seines Romans nach Deutschland versetzt hatte. Wohl eine wirtschaftliche Entscheidung, denn nach dem Buchreport, war der Schweizer Absatzmarkt für Bücher im Jahre 2019 rückläufig, während Deutschland und Österreich eine kleine Absatzsteigerung erfahren haben. (Es war jeweils zwar etwas knapp über 1 %, aber immerhin!) Wie stellt er sich also den deutschen Leser vor? Was mag er? Womit kann man den deutschen Leser verführen? Wohl mit der Sprache... Betrachtet man nämlich die sprachliche Ebene des Textes fällt einem eine sehr elegante Sprache auf, die entfernt an Thomas Mann erinnert. Ein Zufall? Vermutlich nicht, wenn man das Setting des Romans bedenkt - ein von der Welt abgeschirmter Schreiblehrling, der in der Bibliothek von dem literarischen Kanon umgeben ist. Die Ähnlichkeit mit Thomas Mann bzw. mit Felix Krull liegt auch auf der inhaltlichen Ebene, z.B. in den Bezügen zu Arthur Schopenhauer.
Zusammenfassend:
Der Text ist stimmig und ganzheitlich, mit einer ästhetisch gelungenen Gestaltung der sprachlichen Ebene. Der inhaltliche Wert dieses Textes ist wohl die Analyse des Schreibprozesses und der Wirkung auf den Leser/die Leserin. Denn die LeserInnen dieses Romans werden unweigerlich zum Nachdenken über den Text gebracht, was zur Entautomatisierung des Leseprozesses führt. Die eingenommene Erzählperspektive und die Wahl des unzuverlässigen Erzählers hindern die reibungslose Identifikation mit der Figur, was für viele semantische LeserInnen die Voraussetzung für eine beglückende Lektüre darstellt. Doch erst durch die so entstehende Distanz sowohl zu der Figur als auch zu ihrer Geschichte ist der Prozess der Reflexion möglich.
Charles Lewinsky legte mit seinem Roman "Der Stotterer" ein Meisterstück der Manipulation mit der Sprache vor. Elegant geschrieben, humorvoll, intellektuell ansprechend. Ein Roman, der als ein hervorragendes Beispiel für die Neue Deutsche Lesbarkeit gelten kann.
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