Deniz Ohde hat für ihren Debütroman „Streulicht“ den »aspekte«-Literaturpreis des ZDF 2020, den Bloggerpreis für Literatur „Das Debüt 2020“ sowie den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2020 erhalten und stand sogar auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Aber was hat dieser Roman mit Norbert Elias zu tun?
Doch welche Aspekte dieses Buches waren für die Jurorinnen und Juroren ausschlaggebend?
Bei der Lektüre einiger Jurybegründungen und Rezensionen zu diesem Roman fällt es auf, dass sich die VerfasserInnen bei ihrem Urteil hauptsächlich auf zwei Aspekte beschränken, und zwar auf die Sprache des Romans sowie auf die darin behandelten Themen.
So heißt es in der Begründung der Jury zum „aspekte“-Preis u.a. »Das Klassenbewusstsein der anderen ist so ausgeprägt, wie die Scham vor der eigenen Herkunft und die Angst, nicht dazuzugehören, die für die Ich-Erzählerin prägend sind. Das Versprechen eines Aufstiegs durch Bildung ist schal geworden und lässt sich nur mit Mühe und Glück erreichen“ Die Jury hebt zudem die stille Sprache und die nachklingenden Bilder des Romans hervor, der eine Gesellschaft nachzeichne, aus der es kein Entrinnen gibt. Gelobt wird außerdem, dass es im Buch keine Werturteile gebe und (angeblich) auf eine neue Art ein Teil der Gesellschaft gezeigt wird, der sonst kaum Beachtung erfährt, was allerdings nur jemand behaupten kann, der/die sich selbst im Zentrum und nicht am Rande der Gesellschaft betrachtet.
Für die Jury bei dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ist Streulicht ein „Bildungsroman, der den Vergleich sucht [womit?], der soziologisch unnachgiebig ist [was auch immer dies bedeuten mag…] und unter sanftem Druck [Achtung: Floskel!] alles [was genau ist dieses alles?] zum Vorschein bringt“. Für die Jurorinnen und Juroren dieses Preises (überwiegend selbst Schreibende) ist „alles an diesem Buch […] genau und treffend“.
Auch der Jurykommentar zur Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020 betont den gesellschaftlichen Aspekt dieses Romans, und zwar, dass hier mit einer bestechenden Klarheit (was auch immer darunter genau zu verstehen sei…) ein Teil der Gesellschaft dargestellt wird, der sonst viel zu selten zu Wort komme. Als Thema wird die Darstellung eines (post-)migrantischen Arbeiter*innen-Milieus aufgefasst. Streulicht sei ein Text über eine kleine Familie und ihren hoffnungsvollen Wunsch, in einem Bildungs- und Leistungssystem, das sein Versprechen von Chancengleichheit nicht einhalten könne, dazu zu gehören. (Diese Feststellung impliziert eine Enttäuschung über die Nichteinhaltung eines Versprechens durch ein System, ohne jedoch dabei bedacht wird, dass dies vielleicht an der Trägheit seiner Teilnehmer liegt, wie dies am Beispiel des Vaters der Protagonistin veranschaulicht wird. So könnte man den Roman als eine Aufforderung dazu lesen, das Glück selbst in die Hand zu nehmen, statt zu sitzen und über das eigene Unglück zu klagen.) Auch die Jury zum Deutschen Buchpreis 2020 betont, dass Ohdes Sprache plastisch sei und ohne den didaktischen Zeigefinger und Klischees ausgehe, was allerdings in Hinblick auf Sophie und Pikka nicht ganz zutrifft.
Nicht zuletzt wurde dieser Roman mit dem Bloggerpreis für Literatur „Das Debüt 2020“ ausgezeichnet. (Hier geht es zu dem Beitrag.)
Was lobte die Literaturkritik an diesem Buch?
Dieser Roman begeisterte allerdings nicht nur mehrere Jurymitglieder, sondern er hat auch im Feuilleton viel Anerkennung gefunden. So lobt Sinem Kilic (Die Zeit, 26.11.2020) die gelungenen „Nahaufnahmen“ (Fällt jemandem eine literaturwissenschaftliche Bezeichnung dafür? Warum bedient man sich hier eigentlich der Filmbegriffe?). Dabei wird nach Kilic Streulicht nicht zu einem Betroffenheitsroman, der die Herkunft der Protagonistin denunziere, auch wenn der Rassismus in der Nacherzählung der Kindheit spürbar werde. Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 26.09.2020) betont die starke, unvertraute Stimme, die trotzige Schiefheit der Bilder und die Darstellung des latenten Rassismus im Roman. Einige plakative Stellen dieses Romans erklärt die Rezensentin damit, dass die Verhältnisse selbst plakativ sind. Richard Kämmerlings (Die Welt, 19.09.2020) sieht in Streulicht einen autobiografischen Roman mit einer tristen und finsteren Atmosphäre auf der Textebene. Der Rezensent zeigt sich von dem in „harten und klaren“ Sätzen veranschaulichten Mangel an Empathie einer ganzen Gesellschaft schockiert. Auch Fridtjof Küchemann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2020) zeigt sich von der Geschichte der Ausgrenzung gebannt, auch wenn ihm die im Text vorhandene verbale, psychische und physische Gewalt zusetzt. Für Meike Albath (Deutschlandfunk Kultur, 07.09.2020) ist Streulicht ein Buch über die Klassengesellschaft, über eine prekäre Familiengeschichte, über häusliche Gewalt und Ausgrenzung, wobei sie darin keine emanzipatorische Entwicklungsgeschichte erkenne. (Dies liegt wohl am offenen Ende dieses Romans.) Wie die meisten KritikerInnen lobt auch Albath die genaue und zupackende Sprache, die auf die Denunziation der Figuren verzichtet und Mechanismen von Rassismus und Anpassung beschreibt. (Doch eigentlich geht es hier um eine ganz „normale“ Etablierten-Außenseiter-Gruppendynamik nach Norbert Elias – dazu weiter mehr…) Hubert Winkels zeigt sich ebenfalls begeistert von dem Roman (Süddeutsche Zeitung, 24.08.2020). In Streulicht erkennt er Gewalt und Sprachlosigkeit, zudem kommt ihm die Ich-Erzählerin „hyperrealistisch“ vor, doch im Text gebe es auch eine gewisse Distanz und „anrührende Momente“. Für Winkels ist die stilistische Distanzierung die einzige Erlösung vom Joch der Herkunft. Ingo Eisenbeiß (Deutschlandfunk, 19.08.2020) scheint sich für eine sehr subjektive Lesart entschieden zu haben, denn Ohdes Geschichte über eine unterprivilegierte Kindheit in Deutschland wirke auf den Rezensenten berührend bis schmerzhaft. Im Zufolge gehe es hier u.a. um das Ausgeschlossensein des „abgehängten Prekariats“, was immer in Momenten der Sprachlosigkeit symbolisiert wäre. Nach Dirk Knipphals (Die Tageszeitung, 15.08.2020) hinterfragt der Roman, ohne literarische „Tricks“, das Versprechen, dass Aufstieg durch Bildung möglich sei. (Ob dies tatsächlich ohne literarische Tricks erfolge, sei dahingestellt.) Knipphals betont außerdem die Genauigkeit der gezeichneten Figurenporträts. Streulicht sei für ihn kein Thesenroman, sondern einer, der ganz genau hinschaue. Anton Philipp Knittels Kritik (literaturkritk.de, 16.10.2020) beginnt mit folgendem Zitat: „Ich lebe in einem anderen Zeichensystem“ – und dies scheint ebenfalls ein wichtiges Thema dieses Romans zu sein: Zeichensysteme der Gesellschaft. (Zeichensysteme lassen sich ebenfalls als ein Teil der Etablierten-Außenseiter-Dynamik erkennen.) Zudem weist er auf die Räumlichkeit dieses Romans hin, wobei der Eintritt in das Stadtviertel „eher festgefrorene Zustände“ beschreibt. Doch „neben den örtlichen Gegebenheiten sind es vor allem aber die sozialen Zeichensysteme, mit Pierre Bourdieu gesprochen, die „feinen Unterschiede“, oder vielmehr die weniger feinen Abgrenzungen und vor allem die mehr oder minder subtilen chauvinistischen und rassistischen Verletzungen, deren sich die Erzählerin – meist chronologisch – erinnert.“ Für Knittel handelt Ohdes Erstling aber auch vom Aufbruch einer Außenseiterin durch Bildung, von ihrem Willen, sich durch Bildung aus ihrem Milieu zu befreien, was das mühsame Erlernen verschiedener Zeichensysteme und kultureller Codes verlangt. Seine Meinung, Streulicht sei ein starkes Debüt begründet er lustigerweise mit den Preisen, die dieser Roman erhalten hat.
Würde man diese Texte nun zusammenfassen, stellte sich heraus, dass die meisten Rezensentinnen und Rezensenten die dichte Sprache sowie einige Themen hervorheben, auch wenn sie unterschiedliche Perspektiven annehmen. Manche betonen, wie die Protagonistin es trotz der prekären Bedingungen schafft, ein Abitur zu machen. Andere heben die Tatsache hervor, dass die Protagonistin eine türkische Mutter und somit einen Migrationshintergrund hat. Diese erkennen im Text zahlreiche Mikroaggressionen. Andere sprechen wiederum von der Klassengesellschaft. Noch andere zeigen sich darüber enttäuscht, dass das Versprechen – Aufstieg durch Bildung – in diesem Roman (und womöglich auch in der außertextuellen Realität) nicht eingelöst wurde. Ein Thema, das allerdings kaum angesprochen wird, ist die Frage danach, wie das Leben der Eltern das ihrer Kinder beeinflusst.
Auf zu Norbert Elias!
All diese Beobachtungen beziehen sich allerdings nur auf die Textoberfläche. Doch was versteckt sich hinter dem Text, in seiner Tiefenstruktur? Ist es eine Auseinandersetzung mit dem Gutbürgertum? Oder einfach eine Gegenüberstellung zweier Welten, die aufeinanderprallen und die Machtverhältnisse in der Gesellschaft neu aufstellen? Das Modewort „Gatekeeping“ ist in diesem Kontext von Bedeutung. Aber wer steht an der Schranke und warum? Um das Spannungsverhältnis, in dem sich die Protagonistin und insbesondere ihre schulische Umgebung befinden, zu ergründen, könnte die Theorie der Klassen von Norbert Elias herangezogen werden.
Solche Prozesse nämlich, wie sie in dem Roman zu beobachten sind, beschrieben bereits in den 1960er Jahren Norbert Elias und John L. Scotson in ihrem Buch „Etablierte und Außenseiter“. Für diese Studie haben Elias und Scotson die neuen und die eingesessenen Einwohner einer Stadt studiert und festgestellt, dass sich die Eingesessenen auf private Kontakte mit den „Neuen“ kaum einlassen und diese stark stigmatisieren würden. Beide Autoren sehen den Grund dafür in „ungleichen Machtbalancen“, d.h. in den vorherrschenden Stärke- und Abhängigkeitsverhältnissen. Die Etablierten bilden eine nach außen hin homogene Gruppe, die im Laufe der Zeit einen gewissen Normenkanon entwickelte, wogegen die Außenseiter sehr heterogen erscheinen und aufgrund der Unkenntnis die ortsüblichen Verhaltensmuster unbewusst stören, wodurch die Etablierten wiederum verunsichert werden und sich bedroht fühlen. Um das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe der Etablierten zu stärken, werden diejenigen, die sich an die alten Normen halten belohnt, z.B. durch einen Aufstieg in der sozialen Rangordnung. Der größere Zusammenhalt der Etablierten ermöglicht den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe sozial höherwertige Positionen zu reservieren, was wiederum die Mitglieder einer anderen Gruppe von diesen Möglichkeiten ausschließt. Dagegen werden diejenigen, die sich an die Regeln nicht halten, ausgestoßen. In Konsequenz dessen entstehen innerhalb dieser Gruppe zahlreiche Selbst- und Fremdzwänge: „Die Teilhabe an der Überlegenheit und dem einzigartigen Charisma einer Gruppe ist gleichsam der Lohn für die Befolgung gruppenspezifischer Normen“.[1]
Auf der anderen Seite befolgen die Außenseiter unbewusst die Zuschreibungen der Gruppe der Etablierten. „Gib einer Gruppe einen schlechten Namen und sie wird ihm nachkommen.“[2] Denn die Außenseiter messen sich selbst an dem Maßstab ihrer „Unterdrücker“. Andererseits hängt das Selbstwertgefühl und das Selbstbild der Etablierten stark von der Existenz der Außenseiter ab, denn eine Gruppe kann sich nur in der Abgrenzung zu einer anderen Gruppe definieren. Doch Obacht! Denn sobald die Außenseiter mehr Macht erhalten, kann es zu einer Gegenstigmatisierung und einer Rache kommen.
Interessant ist ebenfalls aufzuzählen, welche Eigenschaften den Außenseitern zugeschrieben werden, und zwar bekommen sie die Eigenschaften der schlechtesten Mitglieder der Gruppe der Etablierten. Dagegen definieren sich die Etablierten selbst mit den besten Eigenschaften ihrer besten Mitglieder. Dies ist sofern interessant, dass man je nachdem, mit welchen Eigenschaften man sich selbst bezeichnet, eine Auskunft darüber geben kann, ob man sich als Teil einer bestimmten Gruppe der Etablierten sieht oder (unbewusst) die Position der Außenseiter einnimmt.
Würde man nun diese Theorie auf Streulicht anwenden, ließe sich beobachten, dass dieser Roman diese Dynamik in verschiedenen Konstellationen durchspielt. So gehört die Protagonistin auf dem Gymnasium den Außenseitern an, wogegen ihre Freunde, Sophie und Pikka, aufgrund ihres Familienhintergrundes die Gruppe der Etablierten abbilden. In diesem Roman entscheiden tatsächlich der finanzielle Status und die Position der Eltern in der Gesellschaft darüber, was der Protagonistin zugemutet wird.
Mir scheint Elias’ Theorie aber das Ausschlaggebende, dass sich die Außenseiter der Stigmatisierung durch die Etablierten beugen und ihr gewissermaßen sogar nachkommen, indem sie genau das denken und genau so handeln, wie dies von ihnen erwartet wird.
Wie ist vor diesem Hintergrund die „Flucht“ der Protagonistin am Ende des Romans zu deuten? Verlässt sie die aktuelle Gruppe und sucht sich in der Stadt eine andere? Hat sie sich emanzipiert? Oder ist sie nur durch ihre Angst getrieben? Das Ende ist offen und alles noch möglich.
Wird die Protagonistin erfolgreich werden? Das hängt davon ab, ob sie ihr Mindset ändert oder nicht, ob sie sich selbst als „gut genug“ erachtet und sich als eine Etablierte anerkennt, als eine die dazugehört. Wird dies nicht passieren, wird sie nicht ankommen. Ein Etablierter zu sein, fängt nämlich im Kopf an.
Comments